Geehrte Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes!
Es ist nun schon lange her, dass ich mich entschloss, in die Politik zu gehen. Ich stand immer schon gerne im Rampenlicht, wollte Macht ausüben, wollte natürlich auch etwas für das Land bewirken. Überzeugt von meinen Fähigkeiten, war mir immer klar, dass ich bei der Wahl der Mittel, um an die Macht zu kommen, nicht wählerisch sein durfte. Intrigen wirken einfach beschleunigend auf dem Weg an die Spitze. Die Freunde, die mich dabei unterstützt hatten, sind längst zu Gegnern geworden. Oder waren es immer schon.
Ein mildes Lächeln jener, die das lesen, ist wohl das Beste, was mir passieren kann. Denn Neuigkeiten sind es nicht, die ich hier erzähle. Inzwischen wissen alle, dass ich die letzten Jahre damit zubrachte, mich zu rechtfertigen. Krampfhaft nach guten Leistungen zu suchen, die ich angeblich vollbrachte. Die Fehler meiner politischen Mitbewerber anzuprangern, sie zu beschimpfen und zu beleidigen, um von meinem eigenen Versagen abzulenken.
Das ist mir sogar oft gelungen. Viele von Ihnen ließen sich von meinem rhetorischen Talent, von meiner schauspielerischen Ausbildung verleiten. Auch mein geschniegeltes Äußeres mag dazu beigetragen haben. Aber damit ist es längst vorbei. Die scharfen Falten in meinem Gesicht legen Zeugnis ab von einem anstrengenden Leben. Die eigene Macht zu verteidigen ist aufreibend. Etwas anderes habe ich nicht vorzuweisen.
Alt bin ich geworden. Müde auch. Nur eines scheint mir gut gelungen zu sein. Meine Tochter ist ein wunderbarer Mensch geworden. Aber sie ist bei meiner geschiedenen Frau aufgewachsen. Also auch hier ist es mit meiner eigenen Leistung nicht weit her. Unerklärlicherweise mag mich mein Enkel. Dann und wann besucht er mich, wenn seine Eltern mal keine Zeit haben. Gott sei Dank kommt das vor. Es sind Sternstunden, wenn er mir entgegen gelaufen kommt und vertrauensvoll seine kleine Hand in meine legt. Leider spüre ich bei diesen Treffen in letzter Zeit immer wieder einen kleinen Stich in meiner Seele. Er vertraut mir. Kann er mir vertrauen? Was habe ich für seine Zukunft getan? Wenn er älter sein und verstehen wird, was ich und meinesgleichen aus seiner Welt gemacht haben – was wird er sagen? Was werde ich sagen? Werde ich dann noch leben? Will ich dann noch leben?
Er wird es anders machen, muss es anders machen. Die Welt, die er als Erwachsener antreffen wird, wird eine andere sein. Und sie wird nicht schöner sein. Er wird sich behaupten müssen. Er wird das, was ihm geblieben ist, verteidigen müssen. Es wird vielleicht Krieg geben. Vielleicht Hunger. Ich bete, dass diese schwarzen Gedanken nicht wahr werden. Dass wir das Ärgste noch verhindern können, wenn wir eine neue Botschaft aussenden.
Wenn mein Enkel in die Politik gehen wird, wird er andere Gründe haben. Er wird andere Ideale haben, Ehrlichkeit und Solidarität mit den Schwachen und Benachteiligten zeigen und leben. Er wird helfen, wird andere überzeugen, dass niemand zurückgelassen werden darf, dass die Menschenrechte geachtet werden müssen, dass allen Religionen, Kulturen und Lebensweisen Akzeptanz entgegenzubringen ist. Er wird wissen, dass nur Gewaltfreiheit, Meinungsfreiheit, und Pflichtbewusstsein gegenüber der Natur und allen darin lebenden Wesen die Menschheit weiterbringen und retten kann.
Diese Ziele werden in seiner Welt sehr viel schwerer zu verwirklichen sein als in unserer. Wir müssen ihm heute schon dabei helfen, indem wir ein ganz neues Leben beginnen. Ein Leben, in dem Rücksicht, Fürsorge und Mitgefühl wieder einen ganz großen Stellenwert erhalten.
Sie meinen, das ist das depressive Gefasel von einem, der mit dem Altwerden nicht klarkommt? Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch Einsicht. Eine Einsicht, der Sie sich anschließen sollten.
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