15 April 2023

Kipppunkte der positiven Art


Dieses Bild zeigt den Ausschnitt einer Präsentation der Klimawissenschaftlerin Helga Kromp-Kolb. Hier wird ein Kipppunkt erklärt. Wird er erreicht, kann die fortschreitende Erderhitzung bis zum Untergang der Menschheit durch keine noch so wirksamen Maßnahmen mehr aufgehalten werden. 
Taut beispielsweise der Permafrostboden infolge der Erderhitzung auf, werden große Mengen an Methangas freigesetzt. Das wiederum ist ein Treibhausgas, welches die Erderhitzung weiter beschleunigt, was noch mehr Permafrost zum Tauen bringt, usw. Dadurch schmilzt auch vermehrt arktisches Meereis. Der dann hervortretende Ozean absorbiert Wärme und beschleunigt nochmal die Erhitzung. Schaukeln sich diese verschiedenen Einflüsse gegenseitig auf, wird es zu einem sich selbst verstärkenden Vorgang, der nicht mehr gestoppt werden kann.

Es gibt aber auch Kipppunkte der positiven Art. Sie sind unsere Hoffnung.

Eine Videoaufnahme des Musikfestivals Sasquatch im Mai 2009. Es zeigt einen jungen Mann, der, nur mit einer kurzen Hose bekleidet, selbstversunken vor sich hin tanzt. Alle anderen sitzen oder liegen im Gras und schauen müde in die Landschaft. Es scheint sich gerade um eine ruhige Phase zu handeln. Nach einiger Zeit gesellt sich ein zweiter Mann hinzu, der noch unkonventioneller tanzt. Als schließlich noch ein Mann dazu kommt, wirkt das Ganze wie eine dieser Festivalszenen, bei denen man sich fragt, ob man auch schon so viel Sonne abbekommen hat wie die Leute dort. Doch dann passiert Erstaunliches. Innerhalb weniger Sekunden schließen sich den Tanzenden immer mehr Menschen an. Zuerst fünf, dann zehn, dann kann man sie nicht mehr zählen. Sie rennen, als könnten sie etwas verpassen, und gehen jubelnd in der Menge auf, die bald das ganze Kamerabild ausfüllt. Alle scheinen dabei sein zu wollen, bevor das Lied zu Ende ist. Wie magisch werden die Leute zu der Stelle gezogen, auf der nur kurz zuvor ein Mann vor sich hin tanzte. In weniger als einer Minute hat sich die Situation komplett gewandelt. Eben noch müder Haufen, plötzlich tanzende, springende, jubelnde Menge.

So beschreibt Maja Göpel, Politökonomin und Nachhaltigkeitswissenschaftlerin in ihrem Buch „Wir können auch anders – Aufbruch in die Welt von morgen“ einen Kipppunkt.

Im Jahr 1900 gab es in den Vereinigten Staaten von Amerika 8000 Fahrzeuge mit Benzin- oder Dieselantrieb, 20 Jahre später waren es schon mehr als acht Millionen (heute sind es fast 300 Millionen). Was das Beispiel zeigt: Bei der Einführung neuer Technologien geht es selten linear zu. 

Erst passiert sehr lange sehr wenig, dann ganz schnell ganz viel. Die Gesetze eines Lawinenabgangs.

Ein Kipppunkt, wie ihn „Die Zeit“ beschreibt.

Kann es sein, dass sich diese Geschichte gerade mit den E-Autos wiederholt? Deren Zahl hat sich weltweit in den vergangenen fünf Jahren mehr als verdreifacht. In China fährt mittlerweile jedes dritte Auto mit E-Anbtrieb. Möglicherweise hat auch hier ein Kipppunkt bereits begonnen.

Wie kam es dazu? Sicher nicht, indem man dem freien Markt das Handeln überließ. Hätte der Staat nicht mit Straßenbau und Subventionen aktiv und führend mitgemischt, wäre wohl manches anders gekommen. Genauso ist es heute mit der E-Mobilität. Förderungen, Begünstigungen und Werbung seitens des Staates sind auch hier starke Antriebe. Gut möglich, dass sie bald ähnliches bewirken wie damals bei den Verbrennern.

Kipppunkte könnte es auch im Ernährungsbereich geben. 

Vegane und Vegetarische Ernährung steigen an. Allerdings in einem Tempo, das mit freiem Auge nicht wahrnehmbar ist. Warum? Vielleicht deshalb, weil Maßnahmen fehlen. Fleisch kommt immer noch zu größten Teil aus Tierfabriken und sticht preislich jede Alternative aus artegerechter Tierhaltung locker aus. Die meisten Konsumenten lässt das kalt. 
Unerklärlich, dass so viele wie Hunde-, Katzen-, Sittich- Meerschweinchen- und Hasenhalter:innen so wenig Mitgefühl mit Kühen, Schweinen und Hühnern aufbringen.
 
Kann man eigentlich auch Tieren gegenüber von Rassismus sprechen? 

Aber zurück zum eigentlichen Thema, warum der Kipppunkt hier auf sich warten lässt. Im Unterschied zur E-Mobilität fehlen hier wirksame Maßnahmen, um die Alternativen konkurrenzfähiger zu machen. Solange frisches Biogemüse und regionale Fleischprodukte aus artgerechter Tierhaltung teuer und konventionelles Gemüse und Fleisch aus industrieller Tierhaltung billig sind, wird sich die Ernährungsweise vieler Menschen nicht ändern. Einige, weil ihre Geldbörse es nicht erlaubt, andere, weil sie ihr Geld lieber anderweitig ausgeben.

Bleiben noch die sozialen Kipppunkte. Umfragen ergeben regelmäßig, dass die weitaus meisten Menschen mit Klimaschutzmaßnahmen einverstanden sind. Etwas dafür tun, zum Beispiel weniger fliegen, weniger Autofahren, weniger Fleisch essen, wollen aber die wenigsten. Auch der Bau erneuerbarer Stromerzeugung wird fast immer von Bürgerinitiativen bekämpft, wenn er in ihrer Nähe stattfinden soll. Auch bei Wahlen werden keinesfalls jene Politiker:innen gewählt, die Klimaschutz zu ihrer Aufgabe gemacht haben. 

Das Bewusstsein, selbst etwas tun zu müssen, fehlt. Noch

Die Hoffnung besteht jedoch, dass die Aufklärungsarbeit vieler NGO´s, aber auch Teile von Regierungen (in Österreich ist es das Klimaministerium) Wirkung zeigen und einen Kipppunkt in der Gesellschaft herbeiführen.

Viel Zeit bleibt nicht mehr, denn die technologischen, sozialen und gesellschaftlichen Kipppunkte müssen noch vor den ökologischen stattfinden.

Denn: 
Ein Kipppunkt ist ein sich selbst verstärkender Mechanismus. Hat er begonnen, gibt es kein Zurück mehr. Wann in der Natur solche Kipppunkte erreicht werden oder ob ein Kippelement bereits erreicht ist, ist schwer zu sagen. Kann sein, dass wir bereits in einem solchen leben.


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