Es war Ostern 2016, als mir dieser Artikel in den Salzburger Nachrichten in die Hände fiel. Vier Jahre danach hat er nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Denn die Flüchtlingskrise gibt es noch immer, wenn auch nicht an unserer Grenze oder in unserem Land.
Das Lebendige reißt Zäune auf
Ostern ist nichts für die
Statistik und den Verstand. Es ist die jedes Jahr neue Geschichte, dass kein
Mensch für immer verloren ist.
Unsere Epoche ist vom Fetisch der
Zahlen geprägt. Weil wir nicht mehr wissen, was wir glauben und woran wir uns
halten können, halten wir uns an Zahlen. Obergrenzen zum Beispiel, mit denen
die Politik uns einzureden versucht, dass sie eine Situation im Griff habe.
Oder Umfragen, aus denen wir gern die Bestätigung beziehen, dass wir auf der richtigen
Seite stehen, auf jener der Mehrheit. Oder Statistiken, die uns weismachen
wollen, um wie viel Prozent unsere Lebenserwartung steigt oder unser
Krebsrisiko sinkt, wenn wir nur das Richtige essen.
Wir klammern uns an ein
mechanistisches Weltbild. Eines, das so funktioniert wie die Technik (wenn sie
denn funktioniert): Da greift ein Rädchen wundersam in das andere, und wenn wir
an den richtigen drehen, wird am Ende alles gut.
Aber Leben funktioniert genau
nicht so. Schon die Jüngerinnen und Jünger des Jesus von Nazareth mussten
einsehen, dass all ihr Kalkül ein Trugschluss war. Ihr Lehrer hat die Römer
nicht aus dem Land gejagt und keine neue Herrschaft errichtet, unter der seine
Getreuen die ersten Ränge besetzen sollten. Am Ende war der Karfreitag. Die
Männer, die bis zuletzt große Sprüche geführt hatten, suchten das Weite und
verriegelten die Türen. Nur ein paar Frauen harrten aus.
Mit dem Tod Jesu hat sich das
Leben der Seinen so dramatisch zugespitzt, wie wir es auch heute empfinden -
vom Stellvertreterkrieg in Syrien, in dem Terrorbanden und Großmächte ein Land
in Geiselhaft nehmen, über die 300 Kinder, die seit dem Herbst im Mittelmeer
ertrunken sind, bis zu den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris und
22. März 2016 in Brüssel.
In solcher Bedrängnis scheiden
sich die Geister. Die einen geraten in Panik und verbarrikadieren sich. Die
anderen bleiben in der Spur. Sie geben den Anspruch an sich selbst und an ihre
Mitwelt nicht auf, dass ein menschlicher, ein zivilisierter und - man darf das
Wort in diesem Zusammenhang ruhig in den Mund nehmen - ein barmherziger Umgang
miteinander möglich ist.
Menschen,
die nicht ermüden
Bei allem Irrwitz tröstet der
Gedanke, dass es bis heute diese vielen solidarischen Menschen gibt, die nicht
ermüden. Sie fürchten sich nicht vor "den Massen" und lassen sich
nicht durch Horrorstatistiken verschrecken. Sie wissen, dass das Leben seinen
eigenen Gesetzen folgt, die wir gottlob nicht vollständig unter Kontrolle
haben.
Tatsachen - tot ist tot -,
Statistiken - aus dem Grab ist noch keiner auferstanden -, nackte Zahlen - wir
sind viel zu wenige, um eine Wende herbeizuführen - helfen nicht weiter, um
eine aussichtslos erscheinende Situation zu bewältigen. Wer an dieser
Oberfläche hängen bleibt, dringt nicht in die Tiefenschichten des Lebendigen
vor. Das Überraschende bleibt ihm verborgen, weil er kein Auge, kein Ohr und
vor allem kein Herz dafür hat.
Vielleicht ist das der Zuspruch
von Ostern 2016: Wir müssen uns nicht irremachen lassen von all den Daten und
Fakten, die auf uns einstürmen. Sie müssen oft genug nur dafür herhalten, den
schnellen Totschlagargumenten das statistische Unterfutter zu liefern. Sogar
die Naturwissenschaften sagen uns, dass das Lebendige sich nicht auf kalte
Zahlenreihen und Algorithmen reduzieren lässt. Das bezeugen selbst die kühnsten
Genetiker, die Gene am liebsten wie ein Räderwerk manipulieren. Sie sind extrem
vorsichtig, wenn es um einen direkten Eingriff in Keimzellen des Lebens geht.
Sie wissen, dass jedes Hantieren am Erbgut - auch wenn es zielgenau nur eine
Krankheit verhindern soll - unabsehbare Folgen haben kann.
Oft genug ist die Wirklichkeit
nur das, was wir uns als solche zurechtzimmern. Aus der Sicht der Jünger Jesu
war am Karfreitag alles aus. Aus der Sicht der Frauen dagegen ist das Leben
weitergegangen. Nicht, weil sie genau gewusst hätten, was sie am Grab erwarten
würde, sondern weil sie sich durch die erdrückende Faktenlage nicht haben
entmutigen und ins Bockshorn jagen lassen.
Das Lebendige ist mehr als die
Summe seiner biochemischen Teilchen. Es lässt sich durch keine
Wahrscheinlichkeitsrechnung einfangen. Es untergräbt Barrieren und reißt Zäune
auf. Daher fangen Menschen, deren Leben schon verloren schien, mit dem Mut der
Verzweiflung jeden Tag neu an, zu glauben, zu hoffen und zu lieben.
Ostern ist nichts für den
Verstand. Es ist das Frühlingsfest des Wachsens und Gedeihens. Jedes Jahr
bricht sich das Leben neu seine Bahn. Das kann weder Grabstein noch Stacheldraht verhindern.
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