09 April 2020

Ostern ist nichts für den Verstand.


Es war Ostern 2016, als mir dieser Artikel in den Salzburger Nachrichten in die Hände fiel. Vier Jahre danach hat er nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Denn die Flüchtlingskrise gibt es noch immer, wenn auch nicht an unserer Grenze oder in unserem Land. 
Das Lebendige reißt Zäune auf
Ostern ist nichts für die Statistik und den Verstand. Es ist die jedes Jahr neue Geschichte, dass kein Mensch für immer verloren ist.
Unsere Epoche ist vom Fetisch der Zahlen geprägt. Weil wir nicht mehr wissen, was wir glauben und woran wir uns halten können, halten wir uns an Zahlen. Obergrenzen zum Beispiel, mit denen die Politik uns einzureden versucht, dass sie eine Situation im Griff habe. Oder Umfragen, aus denen wir gern die Bestätigung beziehen, dass wir auf der richtigen Seite stehen, auf jener der Mehrheit. Oder Statistiken, die uns weismachen wollen, um wie viel Prozent unsere Lebenserwartung steigt oder unser Krebsrisiko sinkt, wenn wir nur das Richtige essen.
Wir klammern uns an ein mechanistisches Weltbild. Eines, das so funktioniert wie die Technik (wenn sie denn funktioniert): Da greift ein Rädchen wundersam in das andere, und wenn wir an den richtigen drehen, wird am Ende alles gut.
Aber Leben funktioniert genau nicht so. Schon die Jüngerinnen und Jünger des Jesus von Nazareth mussten einsehen, dass all ihr Kalkül ein Trugschluss war. Ihr Lehrer hat die Römer nicht aus dem Land gejagt und keine neue Herrschaft errichtet, unter der seine Getreuen die ersten Ränge besetzen sollten. Am Ende war der Karfreitag. Die Männer, die bis zuletzt große Sprüche geführt hatten, suchten das Weite und verriegelten die Türen. Nur ein paar Frauen harrten aus.
Mit dem Tod Jesu hat sich das Leben der Seinen so dramatisch zugespitzt, wie wir es auch heute empfinden - vom Stellvertreterkrieg in Syrien, in dem Terrorbanden und Großmächte ein Land in Geiselhaft nehmen, über die 300 Kinder, die seit dem Herbst im Mittelmeer ertrunken sind, bis zu den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris und 22. März 2016 in Brüssel.
In solcher Bedrängnis scheiden sich die Geister. Die einen geraten in Panik und verbarrikadieren sich. Die anderen bleiben in der Spur. Sie geben den Anspruch an sich selbst und an ihre Mitwelt nicht auf, dass ein menschlicher, ein zivilisierter und - man darf das Wort in diesem Zusammenhang ruhig in den Mund nehmen - ein barmherziger Umgang miteinander möglich ist.

Menschen, die nicht ermüden
Bei allem Irrwitz tröstet der Gedanke, dass es bis heute diese vielen solidarischen Menschen gibt, die nicht ermüden. Sie fürchten sich nicht vor "den Massen" und lassen sich nicht durch Horrorstatistiken verschrecken. Sie wissen, dass das Leben seinen eigenen Gesetzen folgt, die wir gottlob nicht vollständig unter Kontrolle haben.
Tatsachen - tot ist tot -, Statistiken - aus dem Grab ist noch keiner auferstanden -, nackte Zahlen - wir sind viel zu wenige, um eine Wende herbeizuführen - helfen nicht weiter, um eine aussichtslos erscheinende Situation zu bewältigen. Wer an dieser Oberfläche hängen bleibt, dringt nicht in die Tiefenschichten des Lebendigen vor. Das Überraschende bleibt ihm verborgen, weil er kein Auge, kein Ohr und vor allem kein Herz dafür hat.
Vielleicht ist das der Zuspruch von Ostern 2016: Wir müssen uns nicht irremachen lassen von all den Daten und Fakten, die auf uns einstürmen. Sie müssen oft genug nur dafür herhalten, den schnellen Totschlagargumenten das statistische Unterfutter zu liefern. Sogar die Naturwissenschaften sagen uns, dass das Lebendige sich nicht auf kalte Zahlenreihen und Algorithmen reduzieren lässt. Das bezeugen selbst die kühnsten Genetiker, die Gene am liebsten wie ein Räderwerk manipulieren. Sie sind extrem vorsichtig, wenn es um einen direkten Eingriff in Keimzellen des Lebens geht. Sie wissen, dass jedes Hantieren am Erbgut - auch wenn es zielgenau nur eine Krankheit verhindern soll - unabsehbare Folgen haben kann.
Oft genug ist die Wirklichkeit nur das, was wir uns als solche zurechtzimmern. Aus der Sicht der Jünger Jesu war am Karfreitag alles aus. Aus der Sicht der Frauen dagegen ist das Leben weitergegangen. Nicht, weil sie genau gewusst hätten, was sie am Grab erwarten würde, sondern weil sie sich durch die erdrückende Faktenlage nicht haben entmutigen und ins Bockshorn jagen lassen.
Das Lebendige ist mehr als die Summe seiner biochemischen Teilchen. Es lässt sich durch keine Wahrscheinlichkeitsrechnung einfangen. Es untergräbt Barrieren und reißt Zäune auf. Daher fangen Menschen, deren Leben schon verloren schien, mit dem Mut der Verzweiflung jeden Tag neu an, zu glauben, zu hoffen und zu lieben.
Ostern ist nichts für den Verstand. Es ist das Frühlingsfest des Wachsens und Gedeihens. Jedes Jahr bricht sich das Leben neu seine Bahn. Das kann weder Grabstein noch Stacheldraht verhindern.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Umweltbericht 2024

Der heurige Umweltbericht befasst sich intensiv mit der neuen niederösterreichischen Raumordnung und der dazugehörigen Strategischen Umweltp...