13 Februar 2021

Die Wölfin Nummer 14

 



„Tiere sind keine Untertanen: Sie gehören einer anderen Nation an und sind nur durch Zufall mit uns zugleich ins Netz der Zeit gefallen.“ Henry Beston.

Sie hatte keinen Namen, war nur als Nummer 14 bekannt und gehörte zu den insgesamt vierzehn Wölfen, die 1995 im Yellowstone National Park wieder angesiedelt wurden – das Jüngste der Tiere, die Wildbiologen später die Heldin von Yellowstone nannten. Ihr Leben hatte etwas Geheimnisvolles an sich. Das Delta-Rudel, das sie und ihr späterer Partner anführten, lebte die meiste Zeit in einem der entlegensten Gebiete der Vereinigten Staaten, dem schon erwähnten Thorofare, einem herrlich unberührten, etwa dreißig Kilometer langen Tal in der südöstlichen Ecke des Parks.

Kurz nach ihrer Freilassung – die ersten sechs Wochen im Nationalpark hatte sie i einem etwa viertausend Quadratmeter großen Akklimatisierungsgehege verbracht – nahm das Leben von Nummer 14 eine seltsame Wendung. Auf einem routinemäßigen Tracking-flug entdeckten Biologen, dass sie kurz vor der Niederkunft stand. Nur lag ihr Bau ein Stück nördlich vom Nationalpark, in der Nähe des Dorfes Roscoe im Bundesstaat Montana – und zwar ausgerechnet auf dem Gebiet einer Rinderranch. Zu ihrem Rudel gehörten zwei weitere erwachsene Tiere und ihr Partner, ein alter, schon ergrauender Rüde, Nummer 13 dem Biologen den Spitznamen „Old Blue“ gegeben hatten. Die Wölfe verhielten sich vorbildlich: Obwohl unentwegt von Rindern umgeben, machten sie kein einziges Mal Jagd auf Nutzvieh. Die Cowboys auf der Ranch schlossen sie mit der Zeit ins Herz und schauten ihnen gerne zu, wie sie den Wapitis nachsetzten.

Doch manche Nachbarn sahen das anders. Nachdem bei den Naturschutzbehörden immer wieder Todesdrohungen gegen Nummer 14 und ihr Rudel eingegangen waren, beschloss man, die Tiere mitsamt den vier Welpen einzufangen und in eine weniger kritische Gegend zu bringen.

Die Umsiedlung in den Südosten des Parks war ein Erfolg. Der achtköpfigen Familie ging es schon bald sehr gut dort, obwohl die Gegend viele Monate von tiefem Schnee bedeckt ist. In der kalten Jahreszeit sind dort kaum Wapitis zu finden, die dort lebenden Herden ziehen im Spätherbst in Gegenden mit besseren Bedingungen. Doch Nummer 14 und Old Blue, die dauerhaft ein Paar blieben, waren hervorragende Anführer. Es gelang ihnen, mit ihrem Rudel weite Distanzen zu überwinden und die versteckten Wapitis aufzuspüren. Meist übernahm Nummer 14 die Führung.

Ab Sommer 1997 merkte man Old Blue sein hohes Alter immer mehr an. Bei ihren Beobachtungsflügen sahen Biologen, wie schwer es ihm fiel, das Tempo des Rudels zu halten. Wenn es ans Jagen ging, dauerte es ungewöhnlich lange, bis er sich einklinkte. Beim Anlegen der Winterhalsbänder bemerkten Biologen, dass Old Blues Zähne stark abgenutzt waren – bei Wölfen ein sicheres Zeichen für hohes Alter. Jetzt traten am Ende der Jagd andere erwachsene Tiere vor, um das harte Fell der frischen Beute aufzubrechen, doch sie erkannten seinen ranghöheren Status an und ließen ihm beim Fressen den Vortritt.

Im Januar schließlich kamen von Old Blues Halsband stetige, schnelle Signale. Diese Töne zeigen den Biologen an, dass sich der betreffende Wolf nicht mehr bewegt, unter Umständen also tot ist. Und die Wissenschaftler lagen richtig mit ihrer Vermutung: Old Blue lebte nicht mehr.

Nach dem Tod ihres Partners tat Nummer 14 etwas, das kein Wolfsforscher je zuvor erlebt hatte. Sie verließ das heimatliche Territorium beim Heart Lake ohne ihre Welpen und halbwüchsigen Jungen. Von der Luft aus konnte man beobachten, wie sie durch tiefen Schnee Richtung Westen wanderte und dabei derart unwirtliches Gelände durchquerte, dass keine einzige Spur anderer Tiere zu sehen war. Teils durch Verfolgung aus der Luft, teils indem man ihre Fährte aufnahm, machten die Wildbiologen sie schließlich in der Nähe des Pitchstone Plateaus ausfindig. Dort stand sie ganz allein in dreitausend Metern Höhe auf einem leeren, windumtosten Hang und spähte nach dem Beobachtungsflugzeug, das über ihr kreiste. Dann setzte sie ihren Weg fort und wanderte nochmals fünfundzwanzig Kilometer weiter.

Eine Woche später kehrte sie in ihr Territorium zurück und vereinte sich wieder mit ihrer Familie. Niemand wollte laut aussprechen, dass Nummer 14 sich offenbar aus Trauer um ihren Gefährten zurückgezogen hatte. Doch in einem privaten Gespräch gab ein Biologe später mit gesenkter Stimme zu, er habe sich gefragt, ob nicht genau das der Fall gewesen sei: Vielleicht war ihr Verhalten einfach ein Ausdruck tiefen Kummers gewesen – ein Gedanke, den er seither nicht mehr aus dem Kopf bekommen habe.

Aus dem Buch: "Die 8 großen Lehren der Natur" von Gary Ferguson.

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